Mitteilungen 10-11/2010, Seite 286, Nr. 165
Kritik an ELENA in BV-Schreiben an Bundeswirtschaftsminister Brüderle
Die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände (BV) hat in einem Schreiben an Bundeswirtschaftsminister Brüderle, MdB, ihre im Laufe des Jahres bereits geäußerten Bedenken betreffend Umsetzung des ELENA-Verfahrens (elektronischer Einkommensnachweis) unterstrichen. Darin wird hinsichtlich der Administrierbarkeit der Datenabfrage („Chipkarten-Verfahren“) als auch hinsichtlich der entstehenden Kostenbelastung für die Kommunalverwaltungen die Kritik von kommunaler Seite ausführlich dargelegt und eine im September 2010 veröffentlichte Kostenschätzung des Nationalen Normenkontrollrats (NKR) kommunalen Berechnungen gegenübergestellt, die eine noch höhere Kostenbelastung der Kommunen im Falle der Umsetzung des ELENA-Verfahrens ergeben haben.
In dem BV-Schreiben an Bundeswirtschaftminister Brüderle, MdB, heißt es u. a.:
„…Auf Ihre Veranlassung hin hat sich der Nationale Normenkontrollrat (NKR) in einem Gutachten vom 13. September 2010 mit beiden Problemkomplexen näher befasst. Das Gutachten ist leider nicht geeignet, unsere Bedenken zu zerstreuen. Im Ergebnis werden unsere Bedenken durch das Gutachten vielmehr weiter verschärft.
Was das Problem der durch die administrative Umsetzung ausgelösten Kostenbelastung für die Kommunen anlangt, so ergaben nähere Prüfungen von unserer Seite, dass die Berechnungen des Normenkontrollrats diese Kosten bei weitem zu gering ansetzen. Wir beschränken uns zur Verdeutlichung dieses Befundes nachfolgend auf den Bereich des Einsatzes des ELENA-Verfahrens bei der Beantragung von Wohngeld - für den Bereich Elterngeld dürfte Vergleichbares gelten.
Im Ergebnis kommen wir zu einer Belastung in Höhe von 85 Mio. Euro allein für den Wohngeldbereich, anstatt der vom NKR-Gutachten zugrunde gelegten 29,7 Mio. Euro. In der Anlage finden Sie eine detaillierte Gegenüberstellung der maßgeblichen Ansätze.
Geht man davon aus, dass die Kostenschätzungen des NKR für die beiden anderen Einrichtungen, die ELENA anwenden sollen, die Arbeitsagenturen wie die Elterngeldstellen, in vergleichbarer Relation unterschätzt worden sind, dann gelangt man zu einem Gesamtergebnis für die drei betroffenen Verwaltungsbereiche nicht, wie vom Normenkontrollrat unterstellt, von 82,3 Mio. Euro, sondern von rd. 236 Mio. Euro.
Auch der Öffentlichkeit gegenüber wurde diese Kostenbelastung der öffentlichen Verwaltung mit einem Entlastungseffekt zugunsten der die Einkommensdaten meldenden Wirtschaft gerechtfertigt, der mit 90,6 Mio. Euro angesetzt wurde. In der Rechnung des Normenkontrollrates ergibt dies einen „Nettoentlastungseffekt“ durch ELENA in Höhe von 8,3 Mio. Euro - wenig genug. Nach unserer Rechnung verkehrt sich dieser „Nettoentlastungseffekt“ dramatisch in sein Gegenteil: Es ergibt sich in der Nettobetrachtung eine Mehrbelastung durch die Einführung des ELENA-Verfahrens in Höhe von wenigstens 145 Mio. Euro.
Aber selbst wenn die Ergebnisse der NKR-Berechnungen zuträfen, so wären die kommunalen Spitzenverbände nicht bereit, einer Kostenumverteilung von der Wirtschaft auf die öffentliche Verwaltung in nahezu dreistelliger Millionenhöhe ihre Zustimmung zu geben. Umso mehr gilt dies, wenn das ELENA-Verfahren auch insgesamt betrachtet erheblich mehr Kosten verursacht, als es an anderer Stelle Entlastung bringt.
Diese Schlussfolgerung liegt umso mehr nahe, als das zweite von uns angesprochene Grundproblem des ELENA-Verfahrens, die verbürokratisierte und bürgerunfreundliche Durchführung mittels Chipkarte und elektronischer Signatur, auch nach intensiven Überlegungen und Prüfungen von Abhilfemöglichkeiten als unlösbar bezeichnet werden muss.
Auch das Gutachten des Nationalen Normenkontrollrates gelangt zu keiner Antwort auf das Problem, dass das Durchführungsgesetz im Ergebnis dem Antragsteller zum Wohngeld bis zu vier Gänge zu Behörden und IT-Einrichtungen zumutet: Während bisher der überwiegende Teil der Anträge per Post eingereicht werden konnte, hat der Antragsteller (wie alle seine erwerbstätigen Familienmitglieder) zukünftig persönlich auf dem Amt zu erscheinen, um dort mit der Aufforderung konfrontiert zu werden, sich bei einem zugelassenen Trust-Center eine elektronische Signatur zu besorgen (1. Gang). Er begibt sich zu einem Trust-Center, um dort seine Signatur zu beantragen (2. Gang). Ein Teil der Center verschickt die gespeicherte Signatur per Post. Der Antragsteller muss sich zur Poststelle begeben, um diese dort in Empfang zu nehmen (3. Gang). Mit seiner Chipkarte und Signatur erscheint der Antragsteller wieder bei der Behörde - nur um dort sein Einverständnis mit der Abfrage seiner Daten abschließend zu erklären (4. Gang).
Von dem volkswirtschaftlichen Schaden aufgrund entgangener Arbeitszeit einmal abgesehen: Dieses Verfahren wird zu erheblichem Unmut führen, die Öffentlichkeit absehbar beschäftigen und verkehrt die Absicht, die mit dem ELENA-Verfahren verfolgt wird, einen Beitrag zur Entbürokratisierung zu leisten, in sein glattes Gegenteil.
Der Normenkontrollrat diskutiert in seinem Gutachten zwei Optionen, die einen Ausweg aus diesem Dilemma weisen sollen, von denen näher besehen keine zu überzeugen vermag:
1. Statt des Antragstellers könnte zur Wahrung des Zwei-Karten/Schlüssel-Prinzips ein unabhängiger Dritter das erforderliche Einverständnis zur Datenabfrage per Chipkarte und Signatur erteilen. Gedacht ist an den örtlichen Datenschutzbeauftragten.
Der Vorschlag verkennt die Verwaltungspraxis vor Ort. In den Kommunen gibt es eine Vielzahl von Dienststellen, in denen Wohngeldsachbearbeitung stattfindet. Jeder dieser Dienststellen müsste ein Datenschutzbeauftragter zugeordnet werden, dessen Hauptaufgabe zukünftig darin bestehen würde, bei einigen Tausend Fällen jährlich jeweils an der Sachbearbeitung teilzunehmen, um einzelfallbezogen seine Zustimmung zum Datenabruf zu erklären. Rechtsfragen einer zulässigen Mandatierung sind dabei noch gar nicht berührt.
2. Die zweite Option geht dahin, den Behörden selbst die Erstellung der elektronischen Signatur zu übertragen.
Dieser Vorschlag ist weder fachlich noch finanziell umsetzbar. Die Trust-Center arbeiten mit einem hohen Aufwand an Sicherheit und Technik, allein das Verfahren von der Beantragung bei Außenstellen bis zur Ausgabe der Signaturen ist hoch komplex gestaltet. Das liegt weit außerhalb der Reichweite einer kommunalen Wohngeldstelle bzw. einer einzelnen Kommunalverwaltung, deren jede zu einem Trust-Center gemacht werden müsste.
Die personelle Umsetzung würde in jeder deutschen Stadt bzw. jedem Landkreis einen Bestand etlicher hoch qualifizierter IT-Fachleute voraussetzen, die sich nur dieser Aufgabe zu widmen hätten.
Aus alledem ziehen die kommunalen Spitzenverbände folgende Erkenntnis:
- Das ELENA-Verfahren ist den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern nicht zumutbar.
- Das ELENA-Verfahren ist für die betroffenen Verwaltungen nicht administrierbar.
- Das ELENA-Verfahren kostet erheblich mehr als es an Einsparungen an anderer Stelle bringt.
- Das ELENA-Verfahren widerspricht den Bemühungen von Bund, Ländern und Kommunen um Entbürokratisierung.
- Das ELENA-Verfahrensgesetz in seiner gegenwärtigen Fassung muss daher aufgehoben werden.
Wir wären Ihnen, sehr geehrter Herr Minister Brüderle, dankbar, wenn Sie hierzu in geeigneter Weise an den Gesetzgeber heran treten würden….“
In einer Anlage dieses Schreibens werden den Kostenschätzungen des Nationalen Normenkontrollrats (NKR) kommunale Berechnungen gegenübergestellt:
„Das NKR-Gutachten ermittelt im Ergebnis eine jährliche Kostenbelastung für die kommunalen Wohngeldstellen in Höhe von 29,7 Mio. Euro. Unsere eigene Bewertung zeigt dagegen, dass diese Berechnung in nahezu allen zu Grunde gelegten Einzelberechnungen unzutreffend ist. Wir beschränken uns im Folgenden auf die wesentlichen Kostenblöcke:
Der mit Abstand größte Kostenblock in der vorgelegten Gesamtberechnung betrifft die gesetzlich vorgesehene Kostenerstattung der Kommunen für den Erwerb einer qualifizierten elektronischen Signatur durch den Antragsteller.
In der Begründung zum ELENA-Verfahrensgesetz ging Ihr Haus noch von Kosten für die elektronische Signatur in Höhe von 10 Euro bei dreijähriger Gültigkeit aus. In dem NKR-Gutachten ist nun die Rede von 25 Euro, wobei sich das Gutachten auf Aussagen des Trust- Centers des Deutschen Sparkassenverlages („S-Trust“) stützt, das diesen Kostenansatz als Mindestansatz unter der Voraussetzung von „Skaleneffekten“ aufgrund einer entsprechend hohen Zahl ausgegebener Signaturen bezeichnet hat.
Tatsache ist, dass über S-Trust heute keine elektronische Signatur für weniger als 59,95 Euro zu bekommen ist. Anmeldekosten beim Trust-Center sind hierbei noch nicht berücksichtigt. Wir sehen nicht, dass bei einem gleichbleibend hohen Aufwand, den die Trust-Center aufgrund der überkomplexen Voraussetzungen, die der Gesetzgeber an die Ausgabe und Nutzung qualifizierter elektronischer Signaturen gestellt hat, zu erfüllen haben, in einem engen Oligopol von Anbietern sowie bei einem ggf. zu erwartenden Nachfrageüberhang die Preise innerhalb eines Jahres von rd. 60 Euro auf 25 Euro fallen werden. Selbst unter Berücksichtigung von Skaleneffekten wird man als Minimum einen Kostenaufwand für die elektronische Signatur von 50 Euro zugrunde zu legen haben.
Der Normenkontrollrat geht des Weiteren davon aus, dass sich 40 % der Antragsteller auf Wohngeld bereits vor Antragstellung anderweitig eine elektronische Signatur beschafft haben, insbesondere bei einer früheren Beantragung von Arbeitslosengeld I. Diese Quote ist u. E. deutlich zu hoch. Denn das ELENA-Verfahren als Verfahren für einen elektronischen Entgeltnachweis kommt naturgemäß primär überhaupt nur bei Antragstellern zur Anwendung, die erwerbstätig, mithin jedenfalls aktuell nicht arbeitslos sind. Unserer Auffassung nach werden daher äußerstenfalls 10 % der Antragsteller bereits über eine anderweitig beschaffte Signatur verfügen.
Damit sind nicht, wie vom Normenkontrollrat angenommen, Kostenerstattungen in 882.000 Fällen (eine Verlustquote von 5 % eingerechnet) in Höhe von 25 Euro zu leisten, was eine Gesamtbelastung von 22,05 Mio. Euro bedeuten würde. Sondern zu leisten sind Kostenerstattungen in 1.323.000 Fällen in Höhe von 50 Euro, was eine Gesamtbelastung von 66,15 Mio. Euro bedeutet, also einen dreifach höheren Betrag.
Entsprechend höher ist der Personalaufwand für die Kostenerstattung zu veranschlagen. Der vom Normenkontrollrat hierfür veranschlagte Zeitaufwand von 2 Minuten pro Fall ist nach Einschätzung unserer Praktiker erheblich unterzeichnet. Im Minimum sind hierfür 10 Minuten zu veranschlagen - es geht schließlich um einen Vorgang mit Bewilligung, Zahlbarmachung und Verbuchung einer monetären Erstattung. Bei den genannten 1.323.000 Fällen jährlich ergibt dies einen Kostenaufwand für den Personaleinsatz von nicht 1,16 Mio. Euro, wie vom NKR angenommen, sondern von 8,71 Mio. Euro, mithin den nahezu achtfachen Betrag.
Aber auch bei anderen Positionen stimmen wir den Annahmen des NKR nicht zu. So geht der Normenkontrollrat davon aus, dass lediglich jeder zweite Antragsteller von einem Sachbearbeiter der Wohngeldstelle zum ELENA-Verfahren angemeldet werden muss - die übrigen Antragsteller sich entweder von vornherein mit einer vorhandenen Chipkarte von zu Hause online anmelden können oder sich auf der Behörde selbstständig des Lesegeräts bedienen können. Diese Annahme ist unrealistisch. Aufgrund der unzureichenden Verfügbarkeit von Chipkarten und den erheblichen Anforderungen, denen sich der Antragsteller bei der elektronischen Einverständniserklärung gegenüber sieht, ist damit zu rechnen, dass ca. 90 % der Antragsteller auf eine Unterstützung durch den Sachbearbeiter werden angewiesen sein. Damit steigt der Kostenaufwand von dem vom NKR unterstellten Betrag von 2,30 Mio. Euro auf 4,75 Mio. Euro an.
Weiter geht das Gutachten davon aus, dass jährlich bei 3 % der Antragsteller ein weitergehender Bedarf an Beratung und Rückfragen zum ELENA-Verfahren besteht, der mit einem Zeitaufwand von durchschnittlich 3 Minuten veranschlagt wird.
Diese Annahmen erscheinen aus Sicht der Praxis vor Ort ebenfalls unrealistisch. Angesichts der Komplexität der Verfahrens und des aufwändigen Einsatzes der elektronischen Signatur wäre es schon positiv zu bewerten, wenn höchstens jeder zweite Antragsteller einen Zusatzaufwand für Beratung verursachen würde. Es ist gerade bei den Einkommensangaben mit zahlreichen Rückfragen der Antragsteller und entsprechend aufwändigen Ermittlungen zu rechnen, so dass insgesamt ein durchschnittlicher Zeitaufwand von 10 Minuten eher an der unteren Grenze liegen dürfte. Damit sind nicht 83 Tsd. Euro an Kosten, wie vom NKR unterstellt, zu veranschlagen, sondern 461 Tsd. Euro.
Allein die genannten Positionen führen dazu, dass die vom Normenkontrollrat mit insgesamt 29,7 Mio. Euro bezifferten jährlichen Zusatzkosten der Kommunen im Wohngeldbereich auf insgesamt 83,8 Mio. Euro ansteigen. Die übrigen Positionen einbezogen ergibt sich ein voraussichtlicher Gesamtbetrag von rd. 85 Mio. Euro allein für den Wohngeldbereich. Dabei sind mögliche Kostenentlastungen für die Wohngeldverwaltung, die auch der Normenkontrollrat als insgesamt gering einschätzt, bereits eingerechnet.“
(Quelle: DStGB Aktuell 4210)
Az: 407-00