Mitteilungen 07/2016, Seite 289, Nr. 133
Kabinett verabschiedet Bundesteilhabegesetz
Das Bundeskabinett hat am 28. Juni 2016 das Bundesteilhabegesetz verabschiedet. Mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) soll die Eingliederungshilfe aus dem „Fürsorgesystem“ der Sozialhilfe herausgeführt werden. Es soll mehr individuelle Selbstbestimmung durch ein modernes Teilhaberecht und die dafür notwendigen Unterstützungsleistungen ermöglichen. Die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht ist aus kommunaler Sicht zu unterstützen, darüber hinaus muss jedoch ein Weg gefunden werden, die jährliche Ausgabendynamik zu bremsen. Entgegen den Vorgaben des Koalitionsvertrages geht der Gesetzentwurf stattdessen von einer zusätzlichen Belastung der Länder und Kommunen infolge vorgesehener Verbesserungen bei der Anrechnung von Einkommen und Vermögen, der Einführung eines Budgets für Arbeit, der Ausweitung von Leistungen für Teilhabe an Bildung und Verwaltungskosten für das Teilhabeplanverfahren aus. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund erwartet, dass der Bund diese zusätzlichen Kosten übernimmt.
Indem die Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe herausgelöst wird, werden Schüler mit Behinderungen nicht mehr darauf angewiesen sein, „zum Sozialamt zu gehen“. Vielmehr soll zukünftig der „Träger der Eingliederungshilfe“, der durch Landesrecht bestimmt wird, dafür zuständig sein, Leistungen zur Teilhabe zu gewähren. Die Leistungen zur Teilhabe an Bildung dienen der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht, dem Besuch weiterführender Schulen, der dualen oder hochschulischen Ausbildung. Damit wird der Weg zur Inklusion im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention endgültig versperrt. Nicht der Schulbereich öffnet sich für die Belange von Menschen mit Behinderungen, sondern die Eingliederungshilfe bewilligt Leistungen, damit der Einzelne in die Lage versetzt wird, eine Schule zu besuchen. Diese Entwicklung dürfte auf die Interessen der Bildungsminister zurückzuführen sein. In Brandenburg und anderen Bundesländern weigern sich die zuständigen Ressorts seit Jahren, die UN-Behindertenrechtskonvention in Landesrecht umzusetzen. Diesbezüglichen Forderungen des Städte- und Gemeindebundes Brandenburg kam das Land nicht nach (siehe Positionspapier des Verbandes zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention vom 15. März 2012, Mitt. StGB Bbg. 07/2012, S. 222).
Die wichtigsten Regelungen:
Früh handeln
Das BTHG verpflichtet die Träger von Reha-Maßnahmen (wie zum Beispiel die Bundesagentur für Arbeit oder die gesetzliche Rentenversicherung), frühzeitig drohende Behinderungen zu erkennen und gezielt Prävention noch vor Eintritt der Rehabilitation zu ermöglichen. Ziel ist es, bereits vor Eintritt einer chronischen Erkrankung oder Behinderung durch geeignete präventive Maßnahmen entgegenzuwirken und die Erwerbsfähigkeit zu erhalten. Zur Unterstützung dieser gesetzlichen Pflicht wird der Bund auf fünf Jahre befristete Modellvorhaben mit den Jobcentern und der gesetzlichen Rentenversicherung in Höhe von rund 200 Mio. Euro fördern.
Reha einfach machen. Leistungen wie aus einer Hand
In Zukunft ist ein einziger Reha-Antrag ausreichend, um ein umfassendes Prüf- und Entscheidungsverfahren in Gang zu setzen, auch wenn Träger der Eingliederungshilfe, Rentenversicherung, Bundesagentur für Arbeit, Unfall-, Kranken- und Pflegekasse für unterschiedliche Leistungen zuständig bleiben. Dafür werden die Regelungen zur Zuständigkeit und zur Einführung eines trägerübergreifenden Teilhabeplanverfahrens für alle Rehabilitationsträger gesetzlich definiert.
Mehr Selbstbestimmung – unabhängig beraten
Flankiert wird dies durch ein vom Bund gefördertes träger- und leistungserbringerunabhängiges Netzwerk von Beratungsstellen für Menschen mit Behinderungen und deren Angehörige. Dort wird insbesondere Beratung von Menschen mit Behinderungen durch Menschen mit Behinderungen angeboten („Peer Counseling“). Das Angebot setzt auf bestehenden Strukturen auf und wird vom Bund mit rund 60 Mio. Euro jährlich unterstützt.
Mehr Teilhabe – mehr Möglichkeiten
Bessere Teilhabe am Arbeitsleben wird durch mehr Übergänge in Arbeit ermöglicht. Anstelle der Werkstattleistungen sind künftig auch Lohnkostenzuschüsse und Unterstützung im Betrieb durch ein Budget für Arbeit in Höhe von 100 Mio. Euro möglich. Erstmals wird in einem eigenen Kapitel klargestellt, dass die Teilhabe an Bildung eine eigene Reha-Leistung ist. Damit werden nun Assistenzleistungen für höhere Studienabschlüsse wie ein Masterstudium oder in bestimmten Fällen auch eine Promotion ermöglicht. Die Leistungen zur sozialen Teilhabe werden neustrukturiert, ergänzt und konkretisiert. Erstmals wird ein eigener Tatbestand für Elternassistenz geschaffen. Damit erhalten Mütter und Väter mit Behinderungen einen klaren Anspruch auf die erforderlichen Leistungen bei der Versorgung und Betreuung ihrer Kinder.
Mehr mitbestimmen – Vertretungsrechte stärken
Die Mitbestimmung von Menschen mit Behinderungen in den Schwerbehindertenvertretungen der Betriebe wird durch mehr Ansprüche auf Freistellungen und Fortbildungen verbessert. In den Werkstätten für behinderte Menschen erhalten die Werkstatträte mehr Rechte. Daneben wird die Position einer Frauenbeauftragten geschaffen, um geschlechtsspezifischer Diskriminierung besser entgegentreten zu können.
Mehr vom Einkommen – Weniger zum Offenlegen
Mit dem BTHG wird die Eingliederungshilfe aus dem Fürsorgesystem der Sozialhilfe herausgelöst, um dadurch mehr individuelle Selbstbestimmung zu ermöglichen. Daher werden die Fachleistungen der Eingliederungshilfe zukünftig klar von den Leistungen zum Lebensunterhalt getrennt und finanziert. Das ist ein kompletter Systemwechsel. Diese Leistungen waren teilweise von der Wohnform (zum Beispiel Wohnung, Wohngemeinschaft oder Einrichtung) abhängig und es musste ein Teil des Einkommens und Vermögens von der Person selbst sowie von dessen (Ehe-)Partner eingesetzt werden. Menschen mit Behinderung sollen mehr sparen können. Der Freibetrag erhöht sich hier von 2.600 Euro schrittweise bis 2020 auf etwa 50.000 Euro. Selbstgenutztes Wohneigentum und Riester-Altersvorsorge werden nicht angerechnet. Einkommen und Vermögen von Partnern werden ab dem Jahr 2020 bei der Eingliederungshilfe nicht mehr herangezogen.
Mehr Leistungs- und Qualitätskontrolle
Durch Präzisierungen im Vertragsrecht werden bessere Möglichkeiten für effektivere Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsprüfungen geschaffen. Auch die Sanktionsmöglichkeiten bei Verletzung vertraglicher oder gesetzlicher Pflichten der Anbieter von Leistungen für Betroffene werden erweitert. Damit wird sichergestellt, dass bezahlte Leistungen auch tatsächlich und in der vereinbarten Qualität erbracht werden.
Leistungen sollen gebündelt werden
Kommunen und Länder als Träger der Eingliederungshilfe sollen bestimmte Leistungen bündeln können – zum Beispiel den Einsatz eines Begleiters für mehrere Menschen mit Behinderung.
Der vom Bundeskabinett beschlossene Gesetzentwurf eines Bundesteilhabegesetzes (BTHG) kann in der Geschäftsstelle in Potsdam abgefordert werden. Es handelt sich um ein Artikelgesetz, dessen Teile zum 1. Januar 2017, 2018 oder 2020 in Kraft treten sollen.
Bewertung
Entgegen den Vorgaben des Koalitionsvertrages geht der Gesetzentwurf von einer zusätzlichen Belastung der Länder und Kommunen infolge vorgesehener Verbesserungen bei der Anrechnung von Einkommen und Vermögen, der Einführung eines Budgets für Arbeit, der Ausweitung von Leistungen für Teilhabe an Bildung, sozialer Teilhabe und Verwaltungskosten für das Teilhabeplanverfahren aus. In der Eingliederungshilfe wird zur Umsetzung des SGB IX erheblich mehr Personal benötigt werden. Dies widerspricht der Festlegung im Koalitionsvertrag, dass durch die Reform der Eingliederungshilfe keine neue Ausgabendynamik entsteht. Wenn der Bund Leistungsverbesserungen vornehmen will, muss er diese auch finanzieren. Enttäuschend ist aus kommunaler Sicht, dass mit dem Gesetzentwurf keine Maßnahmen getroffen werden, um die jährliche Ausgabendynamik, die eine jährliche Steigerung von 1 Mrd. Euro umfasst, zu bremsen. Die Ausgaben für die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen sind neben den Betriebskosten für die Kindertagesbetreuung der größte kommunale Ausgabenblock im Sozialbereich. Sie betrugen im Jahr 2014 insgesamt 16,4 Milliarden Euro. Der Bund bleibt darüber hinaus aufgefordert, endlich die Diskriminierung pflegebedürftiger Menschen in Einrichtungen der Behindertenhilfe abzuschaffen. Es kann nicht angehen, dass behinderte Menschen Beiträge in die Pflegeversicherung einzahlen, aber im Pflegefall nur Bruchteile ausbezahlt bekommen.
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund erwartet, dass nach der Einigung entsprechend der Zusage des Koalitionsvertrages, die Kommunen ab 2018 in einem Umfang von 5 Mrd. Euro jährlich zu entlasten, zügig ein Gesetzgebungsverfahren in Gang gesetzt wird.
Es bleibt abzuwarten, welche Haltung die Bundesländer im Bundesrat einnehmen, ob sie noch weitere, höhere Standards einfordern und/oder ob sie Landesausführungsgesetze und die Einhaltung des strikten Konnexitätsprinzips im Blick haben.
Monika Gordes, stellvertretende Geschäftsführerin
Az: 403-00