Mitteilungen 08/2012, Seite 323, Nr. 182
Staatsgerichtshof Hessen: Zur Kostenausgleichspflicht des Landes Hessen infolge der Erhöhung von Standards in der Kindertagesbetreuung
1. Die Verordnung über Mindestvoraussetzungen in Tageseinrichtungen für Kinder vom 17. Dezember 2008 (kurz: Mindestverordnung) hat eine den Gemeinden obliegende Aufgabe verändert und zu einer Mehrbelastung der Gemeinden in ihrer Gesamtheit geführt. Für diese Mehrbelastung ist gemäß Art. 137 Abs. 6 Satz 2 der Hessischen Verfassung (HV) ein Ausgleich zu schaffen.
2. Der gebotene Ausgleich hat zeitnah zu erfolgen. Die Ausgleichsregelung braucht jedoch nicht bereits in der Aufgabenübertragungsnorm (hier: Mindestverordnung) getroffen zu werden. Ihr Fehlen hat daher weder die Verfassungswidrigkeit noch die Nichtigkeit der Mindestverordnung zur Folge.
(Leitsätze des Staatsgerichtshofes)
Staatsgerichtshof des Landes Hessen, Urteil vom 6. Juni 2012 – P. St. 2292 –
Zum Sachverhalt:
I.
Die Antragstellerinnen wenden sich mit ihrer Grundrechtsklage gegen die von der Hessischen Landesregierung erlassene und am 1. September 2009 in Kraft getretene Verordnung über Mindestvoraussetzungen in Tageseinrichtungen für Kinder (Mindestverordnung) vom 17. Dezember 2008 (GVBl. I S. 1047).
Die angegriffene Mindestverordnung hat mit ihrem Inkrafttreten die gleichnamige Verordnung vom 28. Juni 2001 (GVBl. I S. 318) abgelöst. Im Vergleich zu jener Verordnung hat die nunmehr in Kraft befindliche Verordnung die Anzahl der für eine Kindergruppe erforderlichen Fachkräfte teilweise erhöht. Ferner sieht sie im Vergleich zu der vorherigen Regelung zum Teil eine Verkleinerung der Kindergruppen vor.
Den gesetzlichen Hintergrund der Verordnung bilden die Bestimmungen des Achten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VIII) sowie des Hessischen Kinder- und Jugendhilfegesetzbuches (HKJGB).
Nach § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat ein Kind vom vollendeten dritten Lebensjahr bis zum Schuleintritt Anspruch auf den Besuch einer Tageseinrichtung. Für Kinder im Alter unter drei Jahren und im schulpflichtigen Alter ist ein bedarfsgerechtes Angebot an Plätzen in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege vorzuhalten (§ 24 Abs. 2 SGB VIII). Kinder, die das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, sind gemäß § 24 Abs. 3 SGB VIII unter den dort näher bezeichneten Voraussetzungen in einer Tageseinrichtung oder in der Kindertagespflege zu fördern.
Nach § 30 Abs. 2 HKJGB tragen die Gemeinden in eigener Verantwortung dafür Sorge, dass die im gemäß § 30 Abs. 1 HKJGB aufzustellenden und fortzuschreibenden Bedarfsplan vorgesehenen Plätze in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege zur Verfügung stehen. Soweit diese Leistung nicht von Trägern der freien und der öffentlichen Jugendhilfe erbracht wird, haben die Gemeinden die Angebote zur Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in Tagespflege (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII) als Bestandteil der Jugendhilfe (§ 1 Abs. 1 Satz 1 HKJGB) – sei es in ihrer Eigenschaft als kreisangehörige Gemeinden, sei es als kreisfreie Städte und Träger der öffentlichen Jugendhilfe – selbst bereitzuhalten (§ 3 Abs. 1 HKJGB).
§ 34 Abs. 1 Nr. 1 HKJGB ermächtigt die Landesregierung u. a. dazu, durch Rechtsverordnung Mindestvoraussetzungen zu regeln, die in Tageseinrichtungen für Kinder erfüllt sein müssen, damit das Wohl von Kindern gewährleistet ist.
II.
Der Hessische Städtetag hat für die Antragstellerinnen zu 1 bis 3, 5 bis 9, 11 bis 22, 24 bis 28, 30, 32, 33 und 35 bis 39 mit einem am selben Tage bei dem Staatsgerichtshof eingegangenen Schriftsatz vom 11. August 2010 Grundrechtsklage gegen die Mindestverordnung erhoben. Mit Schriftsatz vom 23. August 2010 – beim Staatsgerichtshof eingegangen am 26. August 2010 – hat er auch für die Antragstellerinnen zu 4, 10, 23, 29, 31 und mit Schriftsatz vom 31. August 2010 – beim Staatsgerichtshof eingegangen am selben Tage – für die Antragstellerin zu 34 erklärt, dass sie der Grundrechtsklage „beitreten“.
Die Antragstellerinnen sind der Ansicht, die Neufassung der Mindestverordnung verletze die Vorschriften der Verfassung des Landes Hessen - HV - über das Recht der Selbstverwaltung (Art. 137 HV), da der Antragsgegner bei der Änderung der Verordnung keinen Ausgleich für die durch die Erhöhung der Standards hervorgerufenen Mehrkosten vorgesehen habe. Ein derartiger Kostenausgleich wäre aber zwingend erforderlich gewesen, um eine den Vorgaben des Konnexitätsprinzips der Hessischen Verfassung genügende Regelung zu schaffen.
Der Antragsgegner habe eine bestehende übertragene Aufgabe der Kommunen verändert und dadurch für deren Gesamtheit eine Mehrbelastung herbeigeführt. Sie ergebe sich sowohl aus einer Erhöhung des Fachkräfteschlüssels je Kindergruppe als auch aus einer Veränderung der Gruppengrößen: Gruppen mit Kindern vom vollendeten dritten Lebensjahr bis zum Schuleintritt sowie mit Kindern unterschiedlicher Altersstufen benötigten nunmehr jeweils weitere 0,25 Fachkräfte, Gruppen mit Kindern ausschließlich bis zum dritten Lebensjahr weitere 0,50 Fachkräfte. Gruppen für Kinder zwischen dem vollendeten zweiten und dem dritten Lebensjahr sowie für Kinder ab dem Schuleintritt müssten um jeweils fünf Kinder verkleinert werden.
Nach einer ersten Schätzung des Hessischen Städtetages belaufe sich die dadurch verursachte Mehrbelastung jährlich
- für die fünf kreisfreien Städte auf durchschnittlich je € 10.000.000,-,
- für die sieben Sonderstatusstädte jeweils auf € 6.000.000,-,
- für jede der 189 kreisangehörigen Städte auf € 500.000,-,
- für die 237 Gemeinden durchschnittlich auf jeweils € 300.000,-,
- insgesamt also auf € 257.600.000,- im Jahr.
Entlastungen seien in keiner Teilgruppe der „kommunalen Familie“ aufgetreten.
Soweit einzelne Städte und Gemeinden schon vor Inkrafttreten der Mindestverordnung, aber im Vorgriff auf sie mehr Fachkräfte beschäftigt oder Kindergruppen verkleinert hätten, sei dies im Vertrauen auf die angekündigte Erstattung der Kosten, aber auch in Sorge vor einem künftigen Fachkräftemangel geschehen. Aufgrund der Mindestverordnung hätten die Kommunen die Möglichkeit verloren, die Gruppengrößen im Rahmen des rechtlich Zulässigen zu verändern und über etwa frei werdende Stellen zu verfügen. Einen Ausgleich habe das Land nicht geschaffen, obwohl nach Art. 137 Abs. 6 Satz 1 HV mit der Mindestverordnung zugleich eine Regelung über die Kostenfolgen hätte verbunden sein müssen. Geschuldet werde der Ausgleich in voller Höhe derjenigen Kosten, die während der gesamten Geltungsdauer der Min-destverordnung entstünden. Das Land habe damit gegen das Konnexitätsprinzip des Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV verstoßen.
Die Vorgaben durch Bundes- und Landesgesetze seien so weitgehend, dass die Möglichkeit der gemeindlichen Eigengestaltung im Bereich der Kinderbetreuung völlig eingeschränkt sei. Deutlich werde dies insbesondere an den Vorgaben des Tagesbetreuungsausbaugesetzes des Bundes aus dem Jahre 2004. Auch das (Bundes-)Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe vom 8. September 2005 begründe einen erheblichen Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung. Auf dem Gebiet der Jugendhilfe habe die Regelung organisationsrechtlicher, personeller, verfahrensrechtlicher und finanzieller Fragen ursprünglich den Städten und Gemeinden oblegen. Hier habe jedoch der Bund und sodann der Antragsgegner in eine pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe eingegriffen und einen Bereich geregelt, der ihm von Verfassungs wegen gar nicht zugestanden habe.
Dass der Landesgesetzgeber in § 34 Abs. 1 Nr. 1 HKJGB eine Rechtsgrundlage für die angegriffene Verordnung vorgesehen habe, sei ein weiteres Indiz dafür, dass er mehr als nur eine Rechtsaufsicht über diesen Aufgabenbereich ausüben wolle. Man müsse daher davon ausgehen, dass es sich bei der Kinderbetreuung mittlerweile um eine staatliche Aufgabe handele, die durch Bund und Länder immer weiter ausgefüllt und in ihren wesentlichen Linien vorgegeben werde.
Mit der Erhöhung der Betreuungsstandards durch die angegriffene Verordnung werde eine staatliche Aufgabe verändert, die den Städten und Gemeinden durch § 30 HKJGB zugewiesen sei. Es bleibe dem Antragsgegner überlassen, ob er den dafür geschuldeten Kostenausgleich in der Verordnung, welche die Standards festsetze, oder im Finanzausgleichsgesetz oder in einem anderen Gesetz regele. Ein Kostenausgleich müsse jedoch vorgesehen werden, ob nun im Finanzausgleichsgesetz oder in einem anderen Gesetz im formellen oder materiellen Sinne. Das müsse auch mindestens innerhalb der Jahresfrist des § 45 Abs. 2 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof - StGHG - geschehen, damit ein effektiver Rechtsschutz gewährleistet sei.
Weder im Zeitpunkt der Klageerhebung noch in der Zwischenzeit sei eine Kostenausgleichsregelung geschaffen worden. Die angegriffene Verordnung verletze die Antragstellerinnen daher in ihrem Recht auf Selbstverwaltung nach Art. 137 Abs. 1 HV in seiner Ausprägung durch die Konnexitätsbestimmungen in Art. 137 Abs. 6 HV. Sie sei „die den Kostenausgleich auslösende Grundlage“ und stehe unter der Bedingung, „dass sie nur im Falle eines Kostenausgleichs verfassungsgemäß sein“ könne. Die Antragstellerinnen seien nach § 5 Abs. 1 und 2 sowie § 30 HKJGB für Aufgaben im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe einschließlich der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen für Kinder und in der Kindertagespflege nach § 24 SGB VIII zuständig.
Wenn man in der Kinderbetreuung eine pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe sehe, obliege die Ausgestaltung und Erfüllung dieser Aufgabe den Städten und Gemeinden. Der Staat habe in diesem Bereich ausschließlich die Rechtsaufsicht auszuüben und dürfe keine Vorgaben setzen. Auf der Grundlage der Einordnung der Kinderbetreuung als pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe sei die angegriffene Verordnung „erst recht verfassungswidrig“, da es sich um eine fachliche Weisung und fachliche Vorgaben handele, bezüglich derer sich der Antragsgegner im Bereich der pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben vollständig zurückzuhalten habe. Außerdem schließe das Recht auf Selbstverwaltung einen Anspruch auf eine angemessene Finanzausstattung ein.
Das Konnexitätsprinzip der Hessischen Verfassung wolle u. a. verhindern, dass Städte und Gemeinden infolge einer finanziellen Überbelastung mit Pflichtaufgaben die Wahrnehmung von freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben vernachlässigen müssten. Die angegriffene Verordnung stelle jedoch „eine fachliche Weisung in erheblicher und in einschränkender Weise für diese von Verfassungs wegen garantierten und geschützten Hoheiten“ dar.
Die Antragstellerinnen beantragen, die Verordnung über Mindestvoraussetzungen in Tageseinrichtungen für Kinder vom 17. Dezember 2008, in Kraft getreten am 1. September 2009, für nichtig bzw. für unvereinbar mit der Verfassung des Landes Hessen zu erklären.
III.
Der Antragsgegner ist der Ansicht, die kommunale Grundrechtsklage sei unzulässig.
Soweit die Unvereinbarkeit der Mindestverordnung mit Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV geltend gemacht werde, fehle den Antragstellerinnen die Beschwerdebefugnis.
Das Konnexitätsprinzip in seiner Ausprägung durch Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV gebe einzelnen Kommunen keinen Anspruch, da es nur Belastungen der Gemeinden oder Gemeindeverbände in ihrer Gesamtheit betreffe. Deshalb sei dessen Umsetzung gemäß Art. 137 Abs. 6 Satz 3 HV durch das Gesetz zur Sicherstellung der Finanzausstattung von Gemeinden und Gemeindeverbänden vom 7. November 2002 (GVBl. I S. 654) auch abschließend in der Weise geregelt, dass eine Kommission dem Landtag und der Landesregierung über Mehrbelastungen oder Entlastungen berichte, zu denen die Übertragung neuer oder die Veränderung bestehender Aufgaben für die Gemeinden oder Gemeindeverbände führe, und dass ihre Berichte bei der Bemessung der Finanzausgleichsmasse des Kommunalen Finanzausgleichs zu berücksichtigen seien, soweit nicht auf andere Weise ein Ausgleich geschaffen wurde. Für eine Anrufung des Staatsgerichtshofes sei daneben kein Raum.
Die „Regelungen über die Kostenfolgen“ im Sinne des Art. 137 Abs. 6 Satz 1 HV müssten überdies nicht in der Norm getroffen werden, die den Gemeinden oder Gemeindeverbänden staatliche Aufgaben zuweise. Fehlten sie, dann verstoße die Zuweisungsnorm nicht schon aus diesem Grund gegen den verfassungsrechtlichen Regelungsauftrag des Normgebers. Verfassungswidrig möge es im Zusammenhang mit einer an sich unbedenklichen Verpflichtungsnorm allenfalls sein, wenn die Kos-tenfolgen auf Dauer offenblieben. Ein etwa gleichwohl festzustellendes Unterlassen des Normgebers könne mit einer gegen Landesrecht gerichteten kommunalen Grundrechtsklage indessen nicht angegriffen werden.
Soweit die Antragstellerinnen der Ansicht seien, der angebliche Verstoß gegen das Konnexitätsprinzip habe ihr Selbstverwaltungsrecht verletzt, und den Staatsgerichtshof um eine entsprechende Feststellung bäten, sei ihre Grundrechtsklage wegen fehlender Substantiierung unzulässig.
Selbst wenn man die von den Antragstellerinnen vorgenommene Schätzung der Kosten als verlässlich ansehen wollte, habe dieses Zahlenwerk mit der individuellen Haushalts- und selbstverwaltungsrechtlichen Lage der Antragstellerinnen nichts zu tun. Mit ihrer kommunalen Grundrechtsklage könnten sie nur geltend machen, in ihrem je eigenen Selbstverwaltungsrecht aus Art. 137 Abs. 3 HV verletzt zu sein. Den hierfür erforderlichen Bezug zwischen der Belastung der kommunalen Familie, ihrer individuellen finanziellen Lage und deren Auswirkungen auf ihre Möglichkeit, ihre Angelegenheiten selbst zu verwalten, hätten die Antragstellerinnen jedoch nicht einmal angedeutet.
Darüber hinaus sei die kommunale Grundrechtsklage auch unbegründet, da die angegriffene Verordnung nicht die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 137 Abs. 6 HV erfülle.
Eine staatliche Aufgabe im Sinne des Art. 137 Abs. 6 Satz 1 HV liege nicht vor. Das Vorhalten von Tageseinrichtungen für Kinder obliege den Kommunen seit jeher als Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft (Art. 28 Abs. 2 GG, Art. 137 Abs. 1 HV) und damit als kommunale Aufgabe (§§ 24, 24a, 79, 69 Abs. 1 SGB VIII in Verbindung mit den §§ 5 und 30 HKJGB). Das Land brauche daher insoweit auch keine Kostenfolgen zu regeln.
Eine Übertragung oder Veränderung von Aufgaben im Sinne des Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV sei durch die angegriffene Mindestverordnung nicht erfolgt. Unter Aufgaben in diesem Sinne seien sachliche Zuständigkeiten zu verstehen. Die sachlichen Zuständigkeiten der Antragstellerinnen hätten sich durch die Mindestverordnung nicht geändert. Die Kommunen seien seit jeher im Aufgabenbereich ihrer Selbstverwaltungsangelegenheiten dafür zuständig, in eigener Verantwortung Tageseinrichtungen für Kinder vorzuhalten. Geändert hätten sich allein die Modalitäten, nach denen sie ihre Zuständigkeit zur Bereitstellung von Tageseinrichtungen für Kinder wahrzunehmen hätten. Diese Zuständigkeit und damit die Aufgabe selbst seien davon unberührt geblieben.
Dass unter Aufgaben im Sinne des Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV Zuständigkeiten zu verstehen seien und nicht schon bloße Modalitäten der Aufgabenwahrnehmung, ergebe sich bereits aus der Verwendung des Aufgabenbegriffs an anderen Stellen des Art. 137 HV. Es werde durch den Vergleich mit dem Grundgesetz und anderen Landesverfassungen bestätigt. Würde jede Änderung allein der Modalitäten einer Aufgabenwahrnehmung die Ausgleichsfunktion des Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV auslösen, so hätte dies eine derart umfassende Neuausrichtung der Finanzierungsströme zwischen Land und Kommunen zur Folge, wie sie mit der Einführung des Konnexitätsprinzips nicht beabsichtigt gewesen sei. Das zeige schon das Volumen von jährlich etwa 260 Mio. Euro, auf das die kommunalen Spitzenverbände bisher den erforderlichen Ausgleich beziffert hätten. Diese Summe auf der Grundlage von Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV bereitzustellen, würde ein finanzkraftunabhängiges und dauerhaftes zweites Finanzausgleichssystem im dreisteiligen Millionenbereich etab-lieren, das dem Verhältnis von Art. 137 Abs. 5 HV als der Grundnorm des Finanzausgleichs zu Art. 137 Abs. 6 HV als deren bloßer Ergänzung nicht mehr entspräche.
IV.
Die Landesanwältin hält die kommunale Grundrechtsklage für zulässig, aber unbegründet.
Es sei zwar zweifelhaft, ob der Vortrag der Antragstellerinnen hinreichend substantiiert die Verletzung eines verfassungsrechtlich geschützten Rechts belege. Vor dem Hintergrund der bei kommunalen Grundrechtsklagen insoweit nicht besonders strengen Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes wie auch ähnlich der des Bundesverfassungsgerichts in diesem Bereich könnten die Anforderungen an die Substantiierungspflicht jedoch als erfüllt angesehen werden.
Die kommunale Grundrechtsklage sei aber nicht begründet. Die Verordnung verstoße nicht gegen Art. 137 HV und das darin statuierte allgemeine Selbstverwaltungsrecht in seiner Ausprägung durch Absatz 6 der Vorschrift.
Satz 1 der Regelung sei schon deshalb nicht betroffen, weil es sich bei der in der Verordnung geregelten Kinderbetreuung nicht um eine staatliche Aufgabe handele. Das Bereitstellen von Tageseinrichtungen für Kinder und für die Kindertagespflege sei in § 30 Abs. 2 HKJGB den Gemeinden in eigener Verantwortung vorgegeben und damit als pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe anzusehen.
Durch die Erhöhung der Betreuungsstandards in der angegriffenen Verordnung werde diese Aufgabe verändert, was zu Mehrkosten für die Kommunen führe. Eine Zuständigkeitsänderung setze Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV nicht voraus. Eine Aufgabenänderung liege vielmehr bereits dann vor, wenn andere inhaltliche Vorgaben gesetzt würden, insbesondere was Art und Umfang der Erfüllung einer bestehenden Aufgabe angehe.
Durch die Verordnung werde aber nicht unzulässig in Art. 137 Abs. 6 HV eingegriffen. Eine Aussage, in welcher Form oder in welchem Zusammenhang der darin vorgesehene Kostenausgleich zu schaffen sei, werde in der Hessischen Verfassung nicht getroffen. Es sei deshalb jedenfalls nicht erforderlich, dass eine Regelung über die Kostenerstattung direkt in dem Gesetz erfolge, in dem kommunale Aufgaben verändert würden. Vielmehr bestimme Art. 137 Abs. 6 Satz 3 HV, dass das Nähere durch ein Gesetz geregelt werde. Dass dieses einen unmittelbaren Ausgleichsanspruch für einzelne Kommunen vorsehen müsste, gebe die Verfassungsbestimmung nicht vor.
Inhalt und Umfang des verfassungsrechtlich gewährleisteten Selbstverwaltungsrechts hätten durch die Einfügung des Absatzes 6 nicht verändert werden sollen. Die als Konnexitätsregelung bezeichnete Neuregelung habe vielmehr ergänzend in der Weise neben das fortbestehende Finanzausgleichsmodell des Art. 137 Abs. 5 HV treten sollen, dass der gebotene Ausgleich von Mehr- oder Minderbelastung im Verfahren des kommunalen Finanzausgleichs zu erfolgen habe.
Letztlich seien also mit der Einfügung des Absatzes 6 lediglich Vorgaben gesetzt worden, die bei der Berechnung und Ausgestaltung des nach Absatz 5 erforderlichen Finanzausgleichs berücksichtigt werden sollten.
Eine Verletzung des Art. 137 HV komme vor diesem Hintergrund allenfalls dann in Betracht, wenn der kommunale Finanzausgleich insgesamt durch die Neuregelung der Verordnung nicht mehr in einer verfassungsmäßigen Weise gewährleistet wäre. Maßgeblich sei insoweit das Finanzausgleichsgesetz. Dieses werde aber nicht angegriffen. Maßstab wäre gegebenenfalls die Selbstverwaltungsgarantie des Art. 137 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 5 HV. Ein entsprechender Vortrag der Antragstellerinnen fehle jedoch.
Aus den Gründen:
I. Die kommunale Grundrechtsklage ist zulässig, aber nicht begründet.
II. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer kommunalen Grundrechtsklage sind erfüllt.
1. Nach den §§ 46, 19 Abs. 2 Nr. 10 StGHG können Gemeinden eine Grundrechtsklage mit der Behauptung erheben, dass Landesrecht die Vorschriften der Hessischen Verfassung über das Recht der Selbstverwaltung (Art. 137 HV) verletzt.
Die kommunale Grundrechtsklage ist grundsätzlich unter den gleichen Voraussetzungen wie die allgemeine Grundrechtsklage zulässig. Das ergibt sich schon aus dem systematischen Zusammenhang. Beide Klagearten finden sich unter Nummer 5 des zweiten Abschnitts des zweiten Teils des Gesetzes über den Staatsgerichtshof. Soweit die Bestimmungen für eine kommunale Grundrechtsklage nicht gelten sollen, hat der Gesetzgeber das ausdrücklich geregelt. So wird etwa nach § 43 Abs. 1 Satz 3 StGHG die kommunale Grundrechtsklage nicht unzulässig, wenn in derselben Sache Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben ist oder wird. Das unterscheidet sie von der jedermann zustehenden allgemeinen Grundrechtsklage nach Art. 131 Abs. 1 und 3 HV, § 43 Abs. 1 Satz 1 StGHG.
- Vgl. StGH, Urteil vom 04.05.2004 - P.St. 1713 -, StAnz. 2004, 2097 [2104]; Urteil vom 04.05.2004 - P.St. 1714 -, LVerfGE 15, 247 [266] –
2. Die Antragstellerinnen sind antragsbefugt. Es ist nicht auszuschließen, dass sie durch die angegriffene Mindestverordnung in ihrem Recht auf kommunale Selbstverwaltung verletzt sind, weil im Zusammenhang mit dieser Regelung kein finanzieller Ausgleich im Sinne des Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV geschaffen worden ist.
3. Die Antragstellerinnen brauchten vor Erhebung der Grundrechtsklage auch keine fachgerichtlichen Rechtsschutzmöglichkeiten wahrzunehmen. Eine Anrufung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes im Normenkontrollverfahren kam nach § 47 Abs. 3 VwGO nicht in Betracht. Darüber, ob ein Gesetz oder eine Rechtsverordnung mit der Hessischen Verfassung in Widerspruch steht, entscheidet nach Art. 132 HV allein der Staatsgerichtshof. Ein möglicher Verstoß der Mindestverordnung gegen einfache Landesgesetze oder gegen Bundesrecht, der zunächst eine fachgerichtliche Befassung möglich und erforderlich machen würde, ist von den Antragstellerinnen nicht vorgetragen worden. Ein solcher Verstoß ist auch nicht derart naheliegend, dass sie darauf hätten verwiesen werden können, zunächst fachgerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen.
4. Die Grundrechtsklage ist schließlich form- und fristgerecht erhoben worden. Mit Beschluss vom 6. Dezember 2010 hat der Staatsgerichtshof den Hessischen Städtetag als Beistand der Antragstellerinnen zugelassen. Die Zulassung eines Beistandes wirkt auf den Zeitpunkt der Antragstellung zurück. Deshalb kann der Beistand vorbehaltlich der späteren Zulassung zugleich mit dem Antrag auf Zulassung als Beistand schon die Grundrechtsklage für den Antragsteller erheben. Dies ist mit den oben erwähnten, namens und in Vollmacht der Antragstellerinnen beim Staatsgerichtshof eingereichten Schriftsätzen des Hessischen Städtetags innerhalb der Jahresfrist des § 45 Abs. 2 StGHG geschehen.
III. Die Grundrechtsklage ist jedoch nicht begründet.
Zwar hätte der Antragsgegner zeitnah nach Inkrafttreten der Mindestverordnung einen Ausgleich schaffen müssen (1.). Dass er dies bislang nicht getan hat, begründet jedoch nicht die Unwirksamkeit der angegriffenen Mindestverordnung (2.). Diese verstößt auch nicht gegen Art. 137 Abs. 6 Satz 1 HV (3.), Art. 137 Abs. 5 HV (4.) oder Art. 137 Abs. 1, 3 HV (5.).
1. Die Mindestverordnung hat eine den Antragstellerinnen obliegende Aufgabe im Sinne des Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV verändert, ohne dass der Antragsgegner bislang einen Ausgleich geschaffen hat.
a) Nach Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV ist ein entsprechender Ausgleich zu schaffen, wenn die Übertragung neuer oder die Veränderung bestehender eigener oder übertragener Aufgaben zu einer Mehrbelastung oder Entlastung der Gemeinden oder Gemeindeverbände in ihrer Gesamtheit führt. Das Nähere regelt gemäß Art. 137 Abs. 6 Satz 3 HV ein Gesetz.
Durch Gesetz nach Art. 137 Abs. 6 Satz 3 HV können dabei lediglich die Spielräume ausgestaltet werden, die Art. 137 Abs. 6 Sätze 1 und 2 HV lässt. Schon aus normhierarchischen Gründen kann dieses Gesetz nichts an dem ändern, was sich bereits aus Art. 137 Abs. 6 Sätze 1 und 2 HV ergibt. So kann die Ausgleichsverpflichtung nach Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV dadurch in ihrem sachlichen Gehalt weder abbedungen noch eingeschränkt werden.
- Vgl. für die parallele Problematik bei Art. 127 Abs. 6 HV StGH, Urteil vom 19.05.1976 - P.St. 757 -, VerwRspr. 28 (1977) , 897 [903], und für die parallele Problematik bei Art. 4 Abs. 3 Satz 2 GG BVerfGE 48, 127 [163]; 69, 1 [25]; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Grundgesetz, 12. Aufl. 2011, Art. 4 Rdnr. 50; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 4 Rdnr. 128; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band IV/2: Die einzelnen Grundrechte, 2011, S. 1089 –
b) Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV ist – anders als Satz 1 – nicht auf die Übertragung staatlicher Aufgaben begrenzt, sondern erfasst auch die Übertragung neuer und die Änderung bestehender kommunaler Aufgaben.
Durch die Veränderung der Standards der Aufgabenerfüllung in der Mindestverordnung ist eine den Antragstellerinnen als eigene Pflichtaufgabe obliegende Aufgabe im Sinne des Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV verändert worden.
- Vgl. Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg, Urteil vom 05.10.1998 - GR 4/97 -, LVerfGE 9, 3 [18], zu Art. 71 Abs. 3 Satz 3 a. F. der Verfassung des Landes Baden-Württemberg; Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 20.01.2011 - LVG 27/10 -, BeckRS 2011, 46632, zu Art. 87 Abs. 3 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt; Aker, VBlBW 2008, 258 [263]; Jensen, LKRZ 2009, 81 [84]; Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Grundgesetz, 12. Aufl. 2011, Art. 84 Rdnr. 25; ders., DVBl. 2011, 125 [127] -
Dem kann auch nicht mit Erfolg der Einwand des Antragsgegners entgegengehalten werden, unter Aufgabe im Sinne des Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV sei die Zuständigkeit zu verstehen und diese habe sich durch die Mindestverordnung nicht verändert; lediglich die Modalitäten, nach denen die Kommunen ihre unverändert gebliebene Zuständigkeit wahrzunehmen hätten, hätten eine Änderung erfahren. Dass der in Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV verwendete Begriff „Aufgabe“ als Zuständigkeit zu verstehen sei, vermag nicht zu überzeugen. Dagegen spricht schon der Wortlaut der Norm, in dem nicht von Zuständigkeiten, sondern eben von Aufgaben die Rede ist, und dies, obwohl die Formulierung des Art. 137 HV, wie dessen Absatz 2 zeigt, durchaus zwischen Aufgaben und Zuständigkeit unterscheidet.
- Grundlegend zu den Unterschieden zwischen Aufgaben und Kompetenzen Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 2. Aufl. 1977, S. 52 f. Vgl. auch Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg, Urteil vom 10.05.1999 - 2/97 -, DÖV 1999, 687 [689], wonach unter „Aufgabe“ im Sinne der Konnexitätsbestimmungen „ein konkretes Aufgabengebiet im Sinne bestimmter zu erledigender Verwaltungsangelegenheiten“ zu verstehen ist -
Auch die systematische Stellung der Vorschrift im Zusammenhang des Art. 137 HV bietet keinen Anlass, unter Aufgaben nicht Aufgaben, sondern Zuständigkeiten zu verstehen. Wenn es in Art. 137 Abs. 1 Satz 2 HV heißt, dass die Gemeinden jede öffentliche Aufgabe übernehmen können, soweit sie nicht durch ausdrückliche gesetzliche Vorschrift anderen Stellen im dringenden öffentlichen Interesse ausschließlich zugewiesen ist, so gibt es keinen Sinn, dies so zu interpretieren, dass damit „jede öffentliche Zuständigkeit“ gemeint sei. Ebenso wenig wäre es sinnvoll, unter übertragenen Aufgaben im Sinne des Art. 137 Abs. 4 und 5 HV übertragene Zuständigkeiten zu verstehen. Auch die übertragenen Aufgaben nehmen die Kommunen in eigener Zuständigkeit wahr.
Nicht zuletzt sprechen Sinn und Zweck des Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV gegen die von dem Antragsgegner vertretene enge Auslegung der Bestimmung. Das Land kann die Kommunen durch die Veränderung der Standards von Aufgaben, welche diese im Rahmen ihrer Zuständigkeit wahrzunehmen haben, ebenso belasten wie durch eine Veränderung ihrer Zuständigkeiten. Die Schutzfunktion des Konnexitätsprinzips ist hier nicht weniger angezeigt als dort. Es gibt keinen überzeugenden Grund, die Ausgleichspflicht in dem einen Fall anders zu sehen als im anderen – und dies in Abweichung von Wortlaut und Systematik der Norm. Entsprechendes gilt für die der Konnexitätsregelung zukommende Warn- und Präventivfunktion, die das Land zwingt abzuwägen, ob politisch Wünschenswertes auch finanziell leistbar ist.
- Vgl. zu den Funktionen des Konnexitätsprinzips Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 26.11.2009 - LVerfG 9/08 -; Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urteil vom 15.12.2008 - VfGBbg 66/07 -, NVwZ-RR 2009, 185 [187]; Schoch, VBlBW 2006, 122 [124 f.]; Dombert, LKV 2011, 353 [356 f.] -
Die von dem Antragsgegner befürchtete übermäßige Ausweitung des Begriffs der Aufgabenveränderung im Sinne des Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV ist von dem Verständnis der Aufgabe als Aufgabe nicht zu erwarten. Zu den ausgleichspflichtigen Aufgabenänderungen sind nämlich nur solche Anforderungen zu zählen, die einen spezifischen Bezug zu der betreffenden kommunalen Aufgabenerfüllung haben, nicht aber solche, die allgemein, für jedermann oder auch für andere staatliche Organisationseinheiten gelten.
- Vgl. § 2 Abs. 3 des nordrhein-westfälischen Konnexitätsausführungsgesetzes; Zieglmeier, NVwZ 2009, 1455 [1458 f.] –
c) Die Aufgabenveränderung durch die Mindestverordnung hat auch zu einer Mehrbelastung der Gemeinden in ihrer Gesamtheit geführt.
Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV macht die Ausgleichspflicht des Landes von einer Mehrbelastung nicht der einzelnen Gemeinde, sondern der Gesamtheit der Gemeinden oder Gemeindeverbände abhängig.
Für die Gemeinden, welche die neuen Standards schon vor Inkrafttreten der Mindestverordnung erfüllt hatten, mag die Verordnung zwar keine ausgleichsrelevanten finanziellen Auswirkungen haben. In allen Gemeinden, welche die nunmehr festgelegten Standards zuvor noch nicht erfüllt hatten, hat die Mindestverordnung aber eine Mehrbelastung zur Folge. Es ist auch keine Konstellation denkbar, in der dieser Mehrbelastung eine Minderbelastung anderer Gemeinden gegenüberstünde, so dass es nicht zu einer Mehrbelastung der Gemeinden in ihrer Gesamtheit käme.
d) Der Ausgleichspflicht des Antragsgegners kann nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, diese sei erst zu einem späteren Zeitpunkt geschuldet. Nach Sinn und Zweck des Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV darf der gebotene Ausgleich nicht unbegrenzt aufgeschoben werden. Er hat vielmehr zeitnah zu erfolgen. Die vorliegende Fallkonstellation gibt keine Veranlassung, diesen Maßstab näher zu konkretisieren. Hier sind nämlich mehr als zwei Jahre und neun Monate seit Inkrafttreten der Mindestverordnung vergangen, ohne dass ein Ausgleich erfolgt ist. Der erforderliche zeitnahe Ausgleich hätte in jedem Fall vor Ablauf eines derart langen Zeitraums vorgenommen werden müssen.
2. Das Fehlen der durch Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV gebotenen Ausgleichsregelung führt jedoch weder zur Verfassungswidrigkeit noch zur Nichtigkeit der Mindestverordnung.
a) Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV kann keine Verpflichtung entnommen werden, die Ausgleichsregelung bereits in dem Gesetz oder der Rechtsverordnung zu treffen, wodurch eine kommunale Aufgabe ausgleichsrelevant verändert wird.
- In diesem Sinne ebenfalls BVerfGE 103, 332 [363 f.], zu einer entsprechenden Bestimmung der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein; Ammermann, Das Konnexitätsprinzip im kommunalen Finanzverfassungs-recht, 2007, S. 154 f.; Groß, in: Hermes/Groß (Hrsg.), Landesrecht Hessen, 7. Aufl. 2011, § 4 Rdnr. 47. Vgl. auch StGH, Beschluss vom 11.05.2011 - P.St. 2304 -, StAnz. 2011, 1482 [1484] -
Zwar ist der Ausgleich für die gesamte Zeit der Mehrbelastung zu leisten. Das kann aber auch durch eine spätere Regelung geschehen.
Hierdurch unterscheidet sich Art. 137 Abs. 6 HV etwa von den Formulierungen in Art. 72 Abs. 3 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern, in Art. 78 Abs. 3 der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen, in Art. 87 Abs. 3 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt (jeweils: „dabei gleichzeitig“), in Art. 97 Abs. 3 Sätze 2, 3 der Verfassung des Landes Brandenburg („dabei“), in Art. 71 Abs. 3 Sätze 2, 3 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg, in Art. 83 Abs. 3 der Verfassung des Freistaates Bayern (jeweils: „gleichzeitig“) und in Art. 57 Abs. 4 Sätze 2, 3 der Niedersächsischen Verfassung („unverzüglich“). Sie alle weisen – zumindest aufgrund des in ihnen hergestellten Zusammenhangs von Kostenregelungs- und Ausgleichspflicht – auf eine besondere zeitliche Nähe zwischen Aufgaben- und Ausgleichsnorm hin, wie sie der Hessischen Verfassung nicht zu entnehmen ist. Schon aus diesem Grunde ist die diesbezügliche Rechtsprechung der für die genannten Bundesländer zuständigen Landesverfassungsgerichte für die Auslegung von Art. 137 Abs. 6 HV unergiebig. Nicht einmal hiernach ist allerdings die Normierung der Kostendeckung in demselben Gesetz oder derselben Rechtsverordnung wie die Aufgabenübertragung geboten.
- Vgl. etwa zu Art. 78 Abs. 3 der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 12.10.2010 - VerfGH 12/09, NVwZ-RR 2011, 41; zu Art. 87 Abs. 3 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 08.07.2003 - LVG 4/01 -, LVerfGE 14, 413 [430]; s. auch zu Art. 71 Abs. 3 Sätze 2, 3 a. F. Verfassung des Landes Baden-Württemberg Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg, Urteil vom 05.10.1998 - GR 4-97 -, NVwZ-RR 1999, 93 [95] -
Auch daran, dass nach der Begründung des Gesetzentwurfs zur Einfügung des geltenden Absatzes 6 in Art. 137 HV der Ausgleich gemäß Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV sich im Rahmen des Finanzausgleichs vollziehen soll,
- Hessischer Landtag, Drucksache 15/3553, S. 5 -
wird deutlich, dass der Ausgleich nicht schon zeitgleich mit der Aufgabennorm erfolgen muss.
Da die Hessische Verfassung kein striktes zeitliches Junktim zwischen einer Aufgabenübertragung oder -veränderung einerseits und einem Ausgleich andererseits gebietet, hat ein Verstoß gegen Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV infolge fehlender der unzureichender Ausgleichsbestimmungen nicht die Verfassungswidrigkeit der Aufgabenübertragungsnorm zur Folge. Die Aufgabennorm wird von einer Verletzung der Ausgleichspflicht nicht berührt.
- Vgl. BVerfGE 103, 332 [365]; Staatsgerichtshof des Landes Baden-Württemberg, Urteil vom 03.08.1961 - 9/1960, 2/1961 -, ESVGH 12/II, 6 [9]; Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen, Urteil vom 21.07.1994 - Vf. 1-VIII-93 -, S. 11; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 03.12.2004 - 4 S 2789/03 -, DÖV 2005, 433 [436]; Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band II, 2. Aufl. 2006, Art. 28 Rdnr. 159; Badenhop, NordÖR 2010, 282 [285]; Henkel, Die Kommunalisierung von Staatsaufgaben, 2010, S. 187 -
b) Die Wirksamkeit der Mindestverordnung steht auch nicht unter der Bedingung eines entsprechenden Ausgleichs.
Dafür, dass die Wirksamkeit einer Aufgabenübertragung oder -veränderung im Sinne des Art. 137 Abs. 6 Satz 2 HV von der Schaffung einer Ausgleichsregelung abhängig sein soll, enthält Art. 137 Abs. 6 HV keinen Anhaltspunkt. Die Vorschrift regelt lediglich eine Ausgleichsverpflichtung unter den in ihr genannten Voraussetzungen.
Soweit das Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt in einer Entscheidung aus dem Jahre 1999 im Falle einer fehlenden Ausgleichsregelung von einer schwebenden Unwirksamkeit der Aufgabenübertragungsnorm ausgegangen ist,
- Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 13.07.1999 - LVG 20/97 -, LVerfGE 10, 440 [456] -
ist dem für die Rechtslage in Hessen nicht zu folgen. Die Entscheidung ist vor dem Hintergrund des abweichenden Wortlauts in Art. 87 Abs. 3 Satz 2 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt („dabei gleichzeitig“) ergangen und daher auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar.
- Vgl. BVerfGE 103, 332 [365]; Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen, Urteil vom 21.07.1994 - Vf. 1-VIII-93 -, S. 11; zu Art. 78 Abs. 3 der nordrhein-westfälischen Verfassung auch Brems, Die Aufgabenverlagerung des Landes Nordrhein-Westfalen auf die Kommunen und die Frage der Finanzierungsfolgen, 2006, S. 167 ff. -
Die Annahme, dass die Wirksamkeit der Aufgabennorm von der Schaffung der gebotenen Ausgleichsregelung abhinge, würde auch zu einer rechtsstaatlich schwer erträglichen Unsicherheit über die Geltung der Aufgabennorm führen. Sähe man die Schaffung der Ausgleichsregelung als aufschiebende Bedingung an, so würde die Aufgabennorm entgegen dem durch sie erweckten Anschein erst mit der Schaffung der Ausgleichsnorm wirksam werden. Die Unsicherheit über die Geltung der Aufgabennorm würde noch dadurch verschärft, dass Konflikte darüber nicht auszuschließen sind, ob eine Ausgleichsnorm den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt und damit die Wirksamkeitsbedingung der Aufgabennorm erfüllt ist. Würde das Unterlassen der fristgerechten Schaffung einer den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Ausgleichsnorm aber als auflösende Bedingung verstanden, so hätte dies entsprechende Unsicherheiten darüber zur Folge, ob die Aufgabennorm noch fortgilt. Auch das wäre mit rechtsstaatlichen Anforderungen kaum zu vereinbaren.
3. Die Mindestverordnung verstößt nicht gegen Art. 137 Abs. 6 Satz 1 HV.
Die Verpflichtung zur Regelung der Kostenfolgen nach Art. 137 Abs. 6 Satz 1 HV betrifft nur den Fall, dass die Gemeinden oder Gemeindeverbände durch Gesetz oder Landesrechtsverordnung zur Erfüllung staatlicher Aufgaben verpflichtet werden. Die Mindestverordnung bezieht sich nicht auf staatliche Aufgaben. Die Vorhaltung von Tageseinrichtungen für Kinder, für welche sie Vorgaben setzt, ist, worauf der Antragsgegner und die Landesanwältin zu Recht hingewiesen haben, vielmehr eine gemeindliche Selbstverwaltungsaufgabe. Das folgt aus Art. 137 Abs. 1, 3 HV. Nach Art. 137 Abs. 1 HV sind die Gemeinden in ihrem Gebiet unter eigener Verantwortung die ausschließlichen Träger der gesamten örtlichen öffentlichen Verwaltung; sie können jede öffentliche Aufgabe übernehmen, soweit sie nicht durch ausdrückliche gesetzliche Vorschrift anderen Stellen im dringenden öffentlichen Interesse ausschließlich zugewiesen ist. Das Recht der Selbstverwaltung dieser Angelegenheiten wird den Gemeinden nach Art. 137 Abs. 3 Satz 1 HV vom Staat gewährleistet. Dass die Vorhaltung örtlicher Tageseinrichtungen für Kinder durch die öffentliche Verwaltung zur örtlichen öffentlichen Verwaltung gehört, unterliegt keinem Zweifel. Die Gemeinden sind zur Wahrnehmung dieser Aufgabe zwar nach §§ 24, 24a, 79, 69 Abs. 1 SGB VIII in Verbindung mit § 3 Abs. 1, § 5 Abs. 1, 2, § 30 Abs. 2 HKJGB verpflichtet. Nach der ausdrücklichen Vorgabe des § 30 Abs. 2 HKJGB handeln sie hierbei aber in eigener Verantwortung. Sie sind hinsichtlich der Art der Aufgabenwahrnehmung keinen gesetzlich vorgesehenen fachaufsichtlichen Weisungen unterworfen. Es handelt sich nicht um einen Fall der Übertragung staatlicher Aufgaben nach Anweisung im Sinne des Art. 137 Abs. 4 HV. Einschränkungen der gemeindlichen Selbstverwaltung durch Gesetze und auf ihnen beruhende Rechtsverordnungen sind keine solchen Anweisungen, sondern werden durch Art. 137 Abs. 3 Satz 2 HV vorausgesetzt.
- Dazu, dass es sich bei dem Bereitstellen von Kinderbetreuungseinrichtungen nicht um eine staatliche Aufgabe handelt, auch Henneke, JAmt 2011, 1 [4]; Engelken, DÖV 2011, 745 [749], jeweils in Bezug auf den Begriff der „staatlichen Aufgabe“ im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Satz 2 der Verfassung des Freistaats Thüringen -
4. Die Mindestverordnung verstößt auch nicht gegen Art. 137 Abs. 5 HV.
Nach Art. 137 Abs. 5 Satz 1 HV hat der Staat den Gemeinden und Gemeindeverbänden die zur Durchführung ihrer eigenen und der übertragenen Aufgaben erforderlichen Geldmittel im Wege des Lasten- und Finanzausgleichs zu sichern. Die Wirksamkeit einzelner Aufgabennormen wie der Mindestverordnung ist von der Erfüllung dieser Verpflichtung jedoch nicht abhängig.
5. Die Mindestverordnung ist schließlich nicht deshalb verfassungswidrig, weil sie übermäßige Beschränkungen der gemeindlichen Eigenverantwortlichkeit bei der Wahrnehmung einer Selbstverwaltungsaufgabe vorsähe. Die Eigenverantwortlichkeit gemeindlicher Selbstverwaltung ist durch Gesetze und Rechtsverordnungen einschränkbar.
- Vgl. zur Einschränkbarkeit durch Rechtsverordnung BVerfGE 26, 228 [237]; 56, 298 [309]; 107, 1 [15 u. 22]; Groß, in: Hermes/Groß (Hrsg.), Landesrecht Hessen, 7. Aufl. 2011, § 4 Rdnr. 38 -
Rechtsnormen, die auf Beschränkungen der gemeindlichen Selbstverwaltung zielen, sind allerdings nicht unbeschränkt zulässig. Sie müssen durch Gründe des gemeinen Wohls, insbesondere durch das Ziel, eine ordnungsgemäße Aufgabenwahrnehmung sicherzustellen, gerechtfertigt sein und sind auf dasjenige zu beschränken, was der Gesetzgeber zur Wahrung der jeweiligen Gemeinwohlbelange für geboten halten darf.
- Vgl. StGH, Urteil vom 04.05.2004 - P.St. 1714 -, LVerfGE 15, 247 [269]; BVerfGE 83, 363 [382 f.]; 107, 1 [13 ff.]; 119, 331 [363]; Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23.03.2010 - VerfGH 19/08 -, NVwZ-RR 2010, 705 [706]; Urteil v. 23.03.2010 - VerfGH 21/08 -, juris, Rdnr. 56 -
Es ist nicht erkennbar, dass mit der Mindestverordnung diese Grenzen überschritten wären. Die darin enthaltenen Vorgaben sollen offensichtlich dem Wohl der Kinder dienen, wie es den Zielen entspricht, die § 45 Abs. 2 SGB VIII und § 34 Abs. 1 Nr. 1 HKJGB zugrunde liegen. Dass die Vorgaben hierzu nicht geeignet, nicht erforderlich oder aus anderen Gründen unverhältnismäßig wären, haben die Antragstellerinnen selbst nicht vorgetragen. Die vorliegende Anfechtungsklage ist zulässig.
Az: 406-00