Mitteilungen 08/2013, Seite 252, Nr. 129
Bundesverfassungsgericht: Freigabe der Briefwahl ohne Angabe von Gründen bei der Europawahl ist verfassungsgemäß
Die Briefwahl auch ohne Angabe von Gründen bei der Europawahl zu ermöglichen, ist verfassungsgemäß. Die Grundsätze der freien und geheimen Wahl sowie der Öffentlichkeit der Wahl werden hierdurch nicht verletzt. Dies hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in einem am 26. Juli 2013 veröffentlichten Beschluss vom 9. Juli 2013 (2 BvC 7/10) entschieden. Das Gericht hatte damit eine Wahlprüfungsbeschwerde gegen die Europawahl 2009 zurückgewiesen.
Der Entscheidung liegen nach Angaben des Bundesverfassungsgerichts im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: Einen Wahlschein, der für die Briefwahl erforderlich ist, erhielt nach früherer Rechtslage derjenige, der sich am Wahltag während der Wahlzeit aus wichtigem Grunde außerhalb seines Wahlbezirks aufhielt, seine Wohnung in einen anderen Wahlbezirk verlegt hatte und nicht in das Wählerverzeichnis des neuen Wahlbezirks eingetragen worden war oder aus beruflichen Gründen oder wegen Krankheit, hohen Alters, einer körperlichen Beeinträchtigung oder sonst seines körperlichen Zustandes wegen den Wahlraum nicht oder nur unter nicht zumutbaren Schwierigkeiten aufsuchen konnte. Die Gründe für die Erteilung eines Wahlscheines waren vom antragstellenden Wahlberechtigten glaubhaft zu machen.
Im Dezember 2008 waren das Europa- und das Bundeswahlrecht dahingehend neu gefasst worden. Ein Wahlberechtigter, der in das Wählerverzeichnis eingetragen ist, erhält ohne Angabe und Glaubhaftmachung von Gründen auf Antrag einen Wahlschein.
Aufgrund dieser Rechtsänderung wendete sich der Beschwerdeführer gegen die Gültigkeit der Europawahl 2009. Er beanstandete den Verzicht auf das Begründungserfordernis für die Teilnahme an der Briefwahl und rügte die aus seiner Sicht mangelnde Fälschungssicherheit und das erhöhte Risiko der ungewollten Abgabe ungültiger Stimmen bei der Briefwahl.
Das Bundesverfassungsgericht hat die die Beschwerde als nicht begründet angesehen:
Bei der Briefwahl sei zwar die öffentliche Kontrolle der Stimmabgabe zurückgenommen. Auch sei die Integrität der Wahl nicht gleichermaßen gewährleistet wie bei der Urnenwahl im Wahllokal. Die Zulassung der Briefwahl diene aber dem Ziel, eine möglichst umfassende Wahlbeteiligung zu erreichen und damit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl Rechnung zu tragen. Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl stelle - jedenfalls im Zusammenhang mit der Briefwahl - eine zu den Grundsätzen der Freiheit, Geheimheit und Öffentlichkeit der Wahl gegenläufige verfassungsrechtliche Grundentscheidung dar, die grundsätzlich geeignet sei, Einschränkungen anderer Grundentscheidungen der Verfassung zu rechtfertigen. In diesem Zusammenhang sei es zwar in erster Linie Sache des Gesetzgebers, bei der Ausgestaltung des Wahlrechts die kollidierenden Grundentscheidungen einem angemessenen Ausgleich zuzuführen. Dabei müsse er jedoch dafür Sorge tragen, dass keiner der Wahlrechtsgrundsätze unverhältnismäßig eingeschränkt werde oder in erheblichem Umfang leer zu laufen drohe. Dies sei derzeit jedoch offenkundig nicht der Fall. Der Senat hatte die Briefwahl daher wiederholt in früheren Entscheidungen als verfassungsrechtlich gerechtfertigt angesehen.
Durch den Verzicht auf die Angabe und Glaubhaftmachung bestimmter Gründe für die Erteilung eines Wahlscheines werde dies nicht in Frage gestellt. Dieser Verzicht beruhe auf nachvollziehbaren Erwägungen und halte sich noch in dem Gestaltungsspielraum, der dem Normgeber von Verfassungs wegen zustehe.
Der Verordnungsgeber habe mit der Änderung des Europawahlrechts - in Übereinstimmung mit dem Gesetzgeber bei der entsprechenden Änderung des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag - auf die zunehmende Mobilität in der heutigen Gesellschaft und eine verstärkte Hinwendung zu individueller Lebensgestaltung reagiert. Dabei habe er sich von dem Ziel leiten lassen, eine möglichst umfassende Wahlbeteiligung zu erreichen.
Die frühere Pflicht zur Glaubhaftmachung von Gründen, die eine Teilnahme an der Urnenwahl hinderten, hatte sich nach Einschätzung des Normgebers als praktisch nutzlos erwiesen, da eine auch nur stichprobenartige Prüfung der angegebenen Gründe nicht möglich gewesen war. Nachvollziehbar und verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei auch die Einschätzung, jeder Versuch, dem Begründungserfordernis höhere praktische Geltung zu verschaffen oder den Zugang zur Briefwahlteilnahme auf eine andere Weise zu regulieren, wäre angesichts der schwindenden Bereitschaft zur Stimmabgabe im Wahllokal mit dem Risiko einer weiter zurückgehenden Wahlbeteiligung behaftet.
Der Normgeber habe auch in den Blick genommen, dass eine deutliche Zunahme der Briefwähler mit dem verfassungsrechtlichen Leitbild der Urnenwahl in Konflikt geraten könne. Dass ein erheblicher Anstieg der Briefwahlbeteiligung durch den Wegfall der Glaubhaftmachung von Antragsgründen jedoch nicht zu befürchten ist, habe der Gesetzgeber für die Bundestagswahl insbesondere mit Erfahrungen bei Landtagswahlen begründet. Es gebe – so das Bundesverfassungsgericht - keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Einschätzung in verfassungsrechtlich relevanter Weise verfehlt oder auf die Wahlen zum Europäischen Parlament nicht übertragbar sein könnte.
Entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers sei gegenwärtig auch nicht erkennbar, dass die geltenden wahlrechtlichen Bestimmungen keine ausreichende Gewähr für den Schutz vor Gefahren bieten, die bei der Durchführung der Briefwahl für die Integrität der Wahl, das Wahlgeheimnis und die Wahlfreiheit entstehen könnten.
Der Verordnungsgeber habe den diesbezüglichen verfassungsrechtlichen Vorgaben bei der Neuregelung des Europawahlrechts Rechnung getragen.
(Quelle: Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 48/2013 vom 26. Juli 2013)
Jens Graf, Referatsleiter
Az: 100-01